In den vergangenen Jahren habe ich mich immer wieder mit Leben und Werk des österreichischen Schriftstellers Robert Musil beschäftigt. Seine analytischen Texte, die unglaubliche Genauigkeit seines Beobachtens und seine Kunst der Verschlüsselung haben mich fasziniert. Dazu kommt für einen Tänzer und Choreographen natürlich vor allem Musils Präzision bei der Schilderung von Bewegungsabläufen. Die kleineren Prosastücke Fliegenpapier und Hellhörigkeit habe ich bereits früher in mehreren Varianten choreographisch umzusetzen versucht. Musils Text Hellhörigkeit beschreibt die akustische Wahrnehmung vertrauter Geräusche aus der konzentrierten Sensibilität eines Fiebernden. Er beschreibt die Veränderung von objektiver Wahrnehmung in subjektive Interpretation, also den eigentlichen Prozess jeden künstlerischen Vorgangs.
Was kann Tanz in einem solchen Prozess ausdrücken? Welche Bewegungselemente und welche Bilder kann er finden, ohne bei vertrauten und unverbindlichen Formen der Bewegung zu landen, die ausreichend viele Interpretationen zulassen? Schliesslich ist auch die Gebärdensprache, die ich hier nutze, letztlich immer auch subjektive Übersetzung. Und wie lässt sich der Dualismus zwischen künstlerischer Empfindung und scheinbar konkreter Wirklichkeit (der Lesende und der Alte als eine gespaltene Person) ausdrücken?
Ich verzichte absichtlich nicht auf des gesprochene Wort im Tanz, schon gar nicht, wenn es sich um eine so feinnervige und komplexe Literatur dieses Monsieur le Vivisecteur handelt. An der Behauptung, dass im Tanz der Ausdruck des Körpers das einzige Mittel sein sollte, habe ich Zweifel. Vielleicht aber habe ich vor allem meine Fragen und Zweifel choreographiert.
Mario Heinemann, April 2000
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