Hellhörig
Die andere Beobachtung

Ein Mann liegt mit einem leichten Grippeanflug im Bett und wartet auf seine Frau, die sich im Nebenzimmer  "bettfertig" macht. Robert Musils Kurzerzählung "Hellhörigkeit" hinterfragt Wahrnehmungserfahrungen und seine Präzision bei der  Schilderung von Bewegungsabläufen inspirierte den Tänzer und Choreographen Mario Heinemann zu einer künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Dualismus zwischen objektiver Wahrnehmung und subjektiver Empfindungen am Heidelberger Stadttheater. Was kann Tanz in einem solchen Prozess ausdrücken und welche Elemente und Bilder kann man finden? Die Figur Musil erscheint in drei möglichen Facetten seiner Persönlichkeit in verschiedenen Lebensphasen. "Der Schreibende" (Stefan Burmester) kauert zwischen zerknüllten Papieren vor einer Schreibmaschine und hat zunehmend Not, den Kampf mit den Musen zu gewinnen. Der junge, idealistische "Lesende" stürzt selbstverliebt durch das Dichterleben und kümmert sich weder um Musen noch um Frauen. Dass ihm die Frauen nicht immer so egal waren, erfährt man in den Anekdötchen des "Alten", der leicht senil vor sich hingrinsend in amourösen Erinnerungen schwelgt. Die Besetzung des Alten mit dem 80-jährigen Heidelberger Tänzer Erwin Schild ist sicherlich ein Glücksgriff. Schild im tragikomischen Gockelkostüm versteht es, dem Abend die Kopflastigkeit zu nehmen und mit Lokalkolorit die Gleichmut des Alters im Gegensatz zur Hitzköpfigkeit des Jungdichters zu setzen. Gebärdensprache und kurze Tanzbewegungen der drei Musen zu Schreibmaschinengeklapper, das sich zum Gewehrfeuer wandelt, kann Musils Kriegserfahrung bedeuten – muss aber nicht. Die getanzten Gebärden der sechs Tänzerin faszinieren durch die mechanischen Bewegungsabläufe als Analyse der Darstellungsform Tanz. Grandios: der "Türentanz", darstellerisch wie tänzerisch, im zweiten Teil. Vor allem Mafumi Ishihara zeigt im gehetzten Solo ihre tänzerische Souveränität. Bühne und Kostüme von Marcel Zaba sind surrealistisch unnahbar und ätherisch anheimelnd und schaffen so die notwendige Stimmung. Mario Heinemann und Sophie Jaillet inszenieren die Momente, lassen dort Ruhe aufkommen, wo man sie geniesst. Ein ungewöhnlicher Abend, voller schöner Ideen und reizvoller Bilder.   Meier, Mai 2000